Heikes Karolinger-Charakter gibt einen Einblick in ihr Leben:
Man nennt mich Runhild Herming1 oder auch einfach Runa. Ich bin die Herrin vom Grimwaldhof, der über zwei hörige Latenfamilien und eine unfreie Familie gebietet. Die Laten haben Höfe in der Nähe unseres Fronhofes, das unfreie Gesinde arbeitet auf unserem Hof, es sind ein Mann mit seinem Weibe und drei Kindern. Unser Hof liegt im Treveris gowe auf dem Hundesrucha, wo es viel mehr Wald als Felder gibt.
Mein Ehemann ist Gerolf, von dem ich fünf Kinder empfangen habe. Wolfgrim und Wolfhard leben noch, ich gebar sie im fünfundzwanzigsten und siebenundzwanzigsten Jahr der Herrschaft von König Karl. Meine anderen Kinder sind dagegen schon zum Herrn im Himmel gegangen. Zudem lebt auch noch Gerolfs Mutter Frida auf unserem Hof. Ich selbst wurde übrigens im zwölften Herrschaftsjahr von König Pippin geboren.
Meine beiden Söhne sind mein ganzer Stolz. Ihr Name scheint sie geprägt zu haben, denn Wolfgrim ist sehr wortkarg und hager, während Wolfhard sehr hart im Nehmen ist. Sie kämpften oft mit Fäusten und Stöcken gegeneinander, inzwischen mit Holzschwertern und Lanzen, aber Wolfhard weint auch bei Schmerzen fast nie. Oft musste ich dazwischen gehen, wenn es wieder einmal zu fest zuging und sogar Blut floss. Wolfgrim ist sehr wissbegierig und fragt immerzu, und Wolfhard ist ein ganz schön frecher Schlingel. Einmal hat er sich in unsere Vorratskammer durchgegraben, zu der nur ich den Schlüssel besitze, um etwas Schinken zu stibitzen.
Ich kümmere mich auf unserem Hof um die Speisen und weise Knecht und Magd an, damit alles so läuft, wie es zu laufen hat. Wenn Waschtag ist, dann gehe ich mit unserer Unfreien Wunna zum Bach und wasche unsere Kleidung und Decken. Ich habe auch ein Auge auf den Garten hinter unserem Haus, wo Gemüse, Gewürzkräuter, Medizin, Krapp und Waid wachsen. Auch Apfel- und Nussbäume haben wir. Abends spinne ich unser Garn. Das Weben überlasse ich Wunna, weil es mir gar nicht liegt. Dafür mag ich es, den Stoff hinterher zu färben, ihn zu Kleidung zu nähen und ganz besonders, ihn mit Stickereien zu verzieren. Auch liebe ich es, abends mit allen auf dem Hof und oft auch den Nachbarn zusammenzusitzen und zu erzählen – Geschichten von früher und von großen Heldentaten, Erzählungen über Gott, die Heiligen, die Geister und die wilden Wesen. Und Berichte darüber, was draußen in der Welt passiert. Diese Welt sehe ich selbst leider so gut wie nie – ich komme höchstens einmal bis nach Treveris, wenn mein Mann mich zur Königspfalz mitnimmt.
Aber ich habe schon einmal etwas von dieser großen Welt gesehen, denn ich stamme nicht vom Hundesrucha sondern aus dem westlichen Falen. Mein Vater Heriman war ein sächsischer Grundherr – oder ist es noch immer, falls er noch lebt. Seitdem ich fort von dort bin, habe ich nämlich von meiner Familie nie mehr etwas gehört. Der Hof meines Vaters war doppelt so groß wie der von Gerolf und er hatte auch viel mehr Sklaven. Dort, in der Nähe der Rura, wo angeblich jetzt eine Burg errichtet worden ist, wuchs ich auf mit zwei Schwestern und einem Bruder - den Zwillingen Adalgund und Adalrun sowie Heimrich – ich war die jüngste. Gerolfs Vater und mein Vater trafen einander auf einem Feldzug gegen die heidnischen und untreuen Sachsen östlich von uns – mein Vater war natürlich König Karl treu ergeben und kämpfte an der Seite des fränkischen Heeres. Sie vereinbarten die Heirat von Gerolf mit mir, weil König Karl Verbindungen zwischen Sachsen und Franken förderte, um unsere Völker zu vereinen. Die Sachsen aus meiner Heimat waren auch schon Christen, während die Heiden weiter östlich weiterhin nur ihre Götter Saxnot, Wuoden und Thunar um Beistand baten, nicht aber unseren Herrn Jesus Christus. Zu uns sagten die Pfaffen, wir sollten die alten Götter einfach vergessen. Aber selbst, wenn man Jesus Christus auf seiner Seite hat, dann können kleine Opfer an die alten Götter sicher nicht schaden. Unser unfreies Gesinde sind übrigens auch Sachsen – sie wurden nach einem Sachsenfeldzug gefangen genommen und zu uns gebracht. Natürlich wurden sie hier sofort getauft, aber wenn man nicht aufpasst, dann bringen sie ständig noch ihren alten Göttern Opfer dar.
Insbesondere meine Mutter Elike brachte viele und häufige solche Opfer dar. Sie wurde erst Christin, als sie meinen Vater heiratete. Ihr ging es ähnlich wie mir: sie kam ursprünglich aus einer ganz anderen Gegend, nämlich von nördlich der Elv. Auch dort leben Sachsen, aber sie sind ganz in der Nähe der Dänen, und so kamen dort oft dänische Händler vorbei. Meine Mutter sagte, dass die Sprache der Sachsen in ihrer Heimat etwas anders als die bei mir zu Hause ist, und dass sie die Dänen ganz gut verstehen konnte. Sie brachte mir auch einige dänische Wörter und Ausdrücke bei.
Lustigerweise kann ich diese jetzt wiederverwenden, weil meines Mannes Mutter Frida eine Nordfrau ist und sie dieselben Wörter und Ausdrücke kennt. Ich bin sehr an ihrer Sprache interessiert, und so hat sie sie mir beigebracht und wir sprechen ab und zu darin. Gerolf ist das egal – seine Mutter lehrte auch ihn ihre Sprache, als er ein Kind war (das gefiel Gerolfs verstorbenen Vater Arnolf zwar nicht, aber er verbot es ihr auch nicht).
Ich würde so gerne mehr von der Welt dort draußen sehen. Ganz besonders würde ich gerne das große Meer und die Länder im Norden sehen, von wo Frida kommt. Sie berichtet mir immer wieder davon, und diese Beschreibungen hören sich so spannend an. Aber ein Weib geht leider nicht auf Reisen…
Jedoch liege ich meinem Mann immer wieder damit in den Ohren – vielleicht reist er ja einmal mit mir wenigstens zu meinen Eltern. Gerolf denkt ja immer, er wäre der unumstrittene Herr auf dem Hof. Aber er ahnt gar nicht, wie oft ich ihn schon durch Neckereien, Bezirzen und Beschwerden zu Entscheidungen gebracht habe, die er ursprünglich gar nicht gewollt hatte. Vielleicht wird es ja doch noch etwas mit meiner Reise in die Welt hinaus.